Persönliches zur Konjekturalwissenschaft

Ich war mein Leben lang sehnsüchtig. Angefangen hat es mit kleinen farbigen Bildern als ich noch ein Kind war. Ich war nach dem Krieg in einem kleinen Ort in Österreich aufgewachsen, und in der schmalen Hauptstraße gab es einen sehr einfachen und schlichten Papierladen, wo man die Schulhefte kaufen konnte und Bleistifte. Ich glaube nicht, dass dort viel mehr zu erwerben war, denn ich war vollends fasziniert von den kleinen „Abziehbildern", die ein paar Groschen kosteten, ein Grossteil meines Taschengeldes. Aber ich musste sie haben.

Man musste etwas Wasser darauf tun und dann leicht daran reiben. Schon bald zeigte sich etwas von dem, was unter der obersten weißen Schicht verborgen war. Ja selbst dieser weiße Überzug glänzte bereits so verheißungsvoll, dass ich vor Aufregung richtig unruhig war. Und dann erschien ein Rot, verschiedene Linien, ein Azuritblau, Türkis-Malachit und wieder ein stark leuchtendes, tief warmes Karmin. Ich weiß gar nicht mehr, was auf den Bildern eigentlich zu sehen war. Wahrscheinlich eine kleine Szene, eine Pflanze, Tiere, Kinder. Denn in der Erinnerung sind es vorwiegend die intensiv glänzenden Farben, deren Aufscheinen durch die Nässe noch erheblich verstärkt wurde. Und vor allem war es eben dieses sich steigernde Enthüllen der Farben und Formen als hätte man eine Vision, eine himmlische Erscheinung, ein jenseitiges Licht.

Für mich als Kind ging es sicher auch um das langsame und immer deutlicher werdende Erkennen der Bildszene, aber heute habe ich nur noch den erregenden Glanz des Augenblicks im Gedächtnis. Ja, es geht mir wie Marcel Proust bei dem Geruch einer bestimmten Marmelade, dass sich die Glückseligkeit des Kinderlebens wieder vor mir auftut, wenn ich daran denke. Ich kann mich dann fast wieder ein bisschen dahin hineinsteigern, obwohl es natürlich nie mehr so ganz gelingt.

So bin ich eben sehnsüchtig geblieben. Auch damals hat natürlich hinter der Sehnsucht nach neuen „Abziehbildern" ein anderes Verlangen gestanden, eins nach dem „verlorenen Objekt" wie die Psychoanalytiker sagen. Nach dem Paradies einer ersten Beziehung zu irgendwelchen Dingen oder zur „frühen Mutter", zum Glanz in deren Augen oder zum Spiel der Lichtstahlen an einem Sonnenmorgen.

Egal, denn ein wirkliches Paradies war es ohnehin nicht, ein solches hat es wahrscheinlich gar nie gegeben. Es waren einfach Augenblicke, Momente, die durch ihren innigen Bezug zu etwas ebenso innigem in mir selbst das Hochgefühl einer Erkenntnis, eines Genießens, eines manischen Zustandes ergaben. Da man keinerlei Macht über diesen Zustand hatte muss er sich retroaktiv in ein Paradies verwandelt, müssen durch eine Rückprojektion zu einem Identitätsphänomen diese Momente ein kleines Szenarium, eine phantasmatische Geschichte, ein Narrativ geformt haben.

Und deswegen schreibe ich jetzt diese Zeilen. Da ich noch genau so sehnsüchtig bin wie damals, und da ich jetzt nur noch das Schreiben habe, denn die Phantasmen kann ich mir ja nicht mehr leisten. Ich kann mir den Glauben nicht mehr leisten, dass es ein wirkliches, konstantes und gesichertes Glücksland gegeben haben muss, das wiederzufinden wäre. Und doch bleibt die Sehnsucht, und die Psychoanalytiker haben schon recht, dass man es wiederfinden muss in einer immer wieder anderen Weise. Das ist der einzige Ausweg. Es so wiederfinden, wie es angeblich einmal war, ist zwecklos. Denn es war nicht so, nicht als Ganzes, als erregender Glanz, als Glückseligkeit, die hätte bleiben können.

Später war es dann mit der Erotik das Gleiche. Anfänglich nur Phantasien über Phantasien. Magische Bilder, wie es sein könnte mit einem Mädchen in den Armen. Erst ganz unschuldige Träume, wirklich ganz harmlose, hoch romantisierte Vorstellungen. Sodann die Sehnsucht nach erotischer Realität, nach sexueller Berührung, Umschlingung, Verschmelzung, Verbrühung. Ja, Verbrühung, denn mit der Zeit wurden die Sehnsüchte immer sexistischer, brennender, perverser. Schon längst waren die Kinderbilder vergessen, schon lange war der Zusammenhang mit den frühen „Abziehbildchen" nicht mehr erkennbar, mit der Mutter, mit dem Schlaraffenland eines noch manischen Genießens. Und wenn man keinen Zusammenhang mehr herstellen kann, wird die Sehnsucht abgründig tief.

Dann meine Sehnsucht nach Indien. Ich sah Bilder von Jaisalmer und der Wüste Thar, trockene und doch leuchtende Landschaften, pastellfarben und doch klare Konturen wie sie eben ein karges Land lithographiert; sie eindrückt, einschreibt ins Seelische. Und da war es dann wieder, scheinbar unerotisch und doch auch wieder das Aufscheinen, -leuchten des Ockers, schwacher Siena, staubigen Chromoxyds und eines anmutenden Graublaus am Horizont. Rajasthan ist steinig und warm, trocken und wehmutweckend. Selbst der Schmutz ist malerisch und die farbigen Frauen wie überirdische Verlockungen. Denn in irdischer Wirklichkeit sind sie arme, ausgemergelte und verbrauchte Gestalten, mit denen man nicht tauschen möchte. Lieber die Sehnsucht behalten, die Sehnsucht nach nirgends und nichts, die sich selbst verzehrende Sehnsucht, die irgendwann auch verlöschen wird, weil sie humorlos ist, ohne Zukunft, leer.

Es bleiben dann ein sich verstolperndes Sprechen, ein sich versprechendes Denken, Knotengedanken, zurück. Kein Fehler. Im Azurit muss schon eine Wahrheit versteckt gewesen sein. Ein ur, urit, ein Laut aus der Tiefe ins helle Oben. Ein linguistischer Stein, womit ich wieder da wäre, womit ich ganze Bücher fülle.

Ich habe nämlich angefangen, Bücher über Psychoanalyse zu schreiben. Aber nicht nur die herkömmliche Psychoanalyse, sondern eine „anders herum". Eben eine in Knoten, in Ver-Wortungen. Ich bin kein guter Schriftsteller, ich muss es durch Wissenschaft ausgleichen. Und das geht so:

Die Welt besteht real aus zweierlei. Bestünde sie real nur aus Eins, könnte und brauchte ich hier keinen Satz schreiben, denn das Reale ist voll. Das Reale genügt sich immer selbst. Es ist ohne Riß. Aber indem ich A sage, mache ich eine Kluft ins Reale (weil ich Symbolisches verwende) - und doch ist es eine Kluft, die immer schon da war, weil es etwas Drittes gibt (geben muss), nämlich etwas Bildhaftes, das im Realen schon steckt. Denn was hieße: real? Real heißt nicht unbedingt nur fest, hart, materiell oder energetisch.

Res = die Sache, in der auch ihr Nichts (französisch: rien) steckt. Res = auch das Vermögen, der Umstand, Grund, Geschäft, Staat, Tat, Geschichte und hundert anderes. Mein Malachit leuchtet wieder auf, ein Rekurs auf die Anfänge des Genießens, und eben so funktioniert Wissenschaft. Sie nimmt irgendwo einen Anfang, kehrt mit neuen Zusammenhängen wieder dahin zurück und steigert sich so zu einer letzten Wahrheits-Wirklichkeit empor.

Man nennt das Konjekturalwissenschaft.

 

Anmerkung der Redaktion:
Der Autor, Dr. Günter von Hummel, praktiziert seit Jahrzehnten als Arzt und Psychoanalytiker. Eine Reihe seiner Schriften finden Sie hier in der Kategorie Natürliche Gesundheit. Weitere Informationen und Literatur finden Sie auf Psyche und Soma.