Die körperlich kranke Seele


Dr. Günter von Hummel

Die körperlich kranke Seele

Einführung

In dieser Broschüre erläutere ich ein äußerst einfaches und klares Konzept eines psychotherapeutischen Verfahrens, dass modernen und exakten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Derartige Verfahren haben sonst meist den Nachteil, dass sie – wie etwa verschiedene Formen der Meditation – zwar einfach und klar sind, aber nicht wissenschaftlich begründet, oder sie sind – wie etwa psychoanalytische Methoden – zu komplex und kompliziert, dafür aber wissenschaftlich präzise. Mein Vorgehen erreicht sowohl die Einfachheit und Klarheit wie auch die Wissenschaftlichkeit durch einen Ausgangspunkt, der als grundlegend für alle Bereichen (Wissenschaft, Kultur, „Spiritualität“, etc.) gelten kann. Er ist der Psychoanalyse entnommen, jedoch vorerst einmal reduziert auf eben diesen Ausgangspunkt (später werden einige theoretische Aspekte notwendig sein, die aber für die Anwendung des Verfahrens nicht für jedermann gleich wichtig sind).

Der Ausgangspunkt besteht in den beiden von der Psychoanalyse herausgearbeiteten und weiter entwickelten Basis von Grund-Kräften, -Trieben, -Prinzipien: (a) einem elementaren Wahrnehmungsgeschehen einerseits (sozusagen etwas, das von außen nach innen gerichtet ist) und (b) einem ebenso grundlegenden Entäußerungsgeschehen (das also von innen nach außen gerichtet ist). Dieses einfache Konzept und seine konkrete Anwendbarkeit wird im Folgenden weiter und weiter erklärt – und das kann dann natürlich auch theoretisch ein bisschen schwieriger werden. Aber als roter Faden kann es stets dienen.

Die Psychoanalyse ist also die am weitesten entwickelte psychotherapeutische Wissenschaft, jedoch sehr komplex und in ihrer klassischen Form für die Behandlung der „körperlich kranken Seele“, also von Krankheiten, die körperliche Beschwerden machen, aber im seelisch Unbewussten ihre Wurzel haben, nicht so gut geeignet. Das Problem liegt in der Art und Weise der Sublimierung, d. h. der Verfeinerung, Anhebung, Verbindlichmachung der unbewussten Triebkräfte (oben gerade als (a) und (b) bezeichnet) ins bewusste, gesellschaftliche und allgemeine Leben. Arbeit, Kunst, Kultur und eben auch analytische Psychotherapie sind z. B. Wege, auf denen die ungesteuerten Triebkräfte verfeinert und dem bewussten Alltags- und Gefühlsleben zugänglich gemacht werden können. Manche dieser Sublimierungen sind mehr intellektuell, andere mehr körper- oder gefühlsnah.

 


SublimierungenAbb. 1 Zusammenhänge verschiedener Sublimierungen auf dem Hintergrund einer Boyschen Fläche.

Die einzelnen Bezeichnungen sind nur eine Auswahl von kulturellen, psychotherapeutischen oder sonstigen Zugängen zum Menschen in seiner Gesamtheit als Subjekt. Die Boysche Fläche ist ein Durchschlingungsgebilde ähnlich dem auf der Umschlagseite, und ist auch wieder mathematisch aufgebaut. Sie demonstriert so erneut die Vielschichtigkeit in einer einheitlichen Formulierung. Dies wird noch von zentraler Bedeutung für die Analytische Psychokatharsis sein (hier mit den Buchstaben A und P gekennzeichnet).

Die Abbildung 1 soll alle diese Zusammenhänge anschaulich darstellen. So leuchtet es sicher sofort ein, dass Sport beispielsweise eine sehr körpernahe Sublimierung ist, aber es wird dabei nichts intellektuell verarbeitet oder erkannt. Die Psychoanalyse ist dagegen eine sehr intellektuelle Methode, bei der auch viel erkannt und geistig-seelisch verarbeitet wird. Aber es fehlt ihr wie gesagt der nahe Bezug zum Körperlichen, und dies ist gerade heute oft das entscheidende Problem. Wer ginge z. B. mit Migräne oder chronischen Magenschmerzen Hunderte von Stunden in eine psychoanalytische Gesprächsbehandlung, in der zwar sehr viel über sich erfährt und vielleicht auch eine kleine Erleichterung seiner Beschwerden verspürt, aber nicht direkt an die Nahtstelle von Seele und Körper gelangt, wo sein Leiden sitzt? Genau so wenig wie ihm diesbezüglich Sport allein weiterhelfen würde, weil eben die Zusammenhänge der innerseelischen Triebkräfte dabei nicht geklärt und gelöst werden, vermag die ausschließlich analytische Therapie wiederum nicht physisch spürbar genug Erleichterung von solchen psychosomatischen Erkrankungen zu bringen. Und auch die Kunst oder andere psychotherapeutische Methoden können gerade die „körperlich kranke Seele“ nicht genügend heilen, so sehr sie auch hilfreich sind.



Trotzdem ist – wie betont - die Psychoanalyse als wissenschaftliches Werkzeug sehr wichtig. Sie hat uns gezeigt, dass wir unbewusst auf den Analytiker Bedeutungen übertragen (man nennt diesen Vorgang daher die Übertragung), die meist aus früheren Beziehungen, Konflikten und den Kombinationen von im wesentlichen zwei Grundtrieben, Triebkräften, Grundprinzipien stammen, die beide für sich autonom sind, aber gegen- und miteinander verwoben in uns wirken. Denn diese beiden Triebkräfte (Wahrnehmungs- und Entäußerungstrieb) sind in uns miteinander stark verwickelt, ja geradezu verknotet, und machen so Probleme und ihre Auswirkungen müssen also gelöst und sublimiert werden. Sonst brechen diese Kräfte in Aggressivität und Perversion, in Ideologie, Fanatismus und anderen -ismen ziemlich ungehindert durch, sind aber nicht nur aus gesellschaftlichen Gründen, sondern auch aus ihrer Kombination heraus keine Lösung für das einzelne Subjekt und stellen eben auch keine genügende Sublimierung dar. Sie bleiben roh und unverbindlich.

Diese beiden Triebkräfte bestehen also einerseits in dem von Freud so benannten Schautrieb (Wahrnehmungstrieb), den ich in seiner konkretesten, unmittelbarsten Repräsentanz ein ES STRAHLT nenne. Sämtliche körperlichen Funktionen aber auch verschüttete seelische Erfahrungen werden nämlich in Gehirnfunktionen (wir können auch sagen: im Unbewussten) „gespiegelt“, d. h. es gibt einen „virtuellen Körper“ im Gehirn, eine unbewusste Struktur, die an jeder Krankheit mitwirkt. Neurowissenschaftler erklären uns, dass dieses Virtuelle vorwiegend im Stammhirn – und d. h. hier durch Nervenverschaltungen - repräsentiert ist. Aber eine solche Auffassung ist natürlich typisch „gehirnwissenschaftlich“, denn wie für jede Krankheit eine derartige Nervenverschaltung, aussehen soll, ist nicht zu sagen. Das zutreffende Sagen, das authentische Benennen, das Rhetorische, bleibt auf der Strecke, insbesondere dann wenn man mit psycho-somatischen Störungen anschaulich umgehen will. Trotzdem aber man könnte es sich gut so denken, dass es vereinfacht gesagt auf der einen Seite um die Mitwirkung „spiegelnder“ Vorgänge oder eben noch besser unbewusster seelischer „Spiegelungen“ geht. Diese innerseelischen „Spiegelungen“ oder Oszillationen nenne ich also – eben noch weiter vereinfacht ausgedrückt – ein ES STRAHLT (Es Scheint, Es Oszilliert). Es ist identisch mit dem Wahrnehmungs- oder Schautrieb, den man nicht weiter zerlegen oder messen kann. Und eben deswegen benötigt man andererseits ein zweites Prinzip oder Triebkraft, um sie dieser ersten entgegen zu stellen. Dieses zweite Triebkraft, dieses zweite Grundprinzip, ist also der Entäußerungstrieb (beim Menschen besser Invokations- oder Sprechtrieb genannt ), und ich will ihn ebenso vereinfacht ein ES SPRICHT (Es Verlautet) nennen. In ihm steckt das Rhetorische, das Bedeutungserzeugende, das Symbolisierungen Ermöglichende, also etwas völlig anderes als im ersten Grundtrieb.

Es erscheint dies alles etwas theoretisch, ist aber im Grunde genommen recht einfach und für das Gesamtverständnis dringend notwendig. In diesem Bereich der Psychologie gibt es einfach keine rein objektiven Fakten, keine direkten Objekte, und man muss sich auf derartige ultimative „Kräfte“ verlassen, wie sie die Psychoanalyse erarbeitet hat. Es gibt also einerseits ein Scheinen, „Strahlen“ im Unbewussten, das man virtuell strukturiert nennen oder auch als „Körperbild“, als ein STRAHLT, erfassen kann und das das kathartische Element des Verfahrens darstellen wird. Positive Spiegelung, ein positives „Strahlen“, wird nämlich als reinigend, ja manchmal direkt durch ein inneres Schaudern, Rieseln (also körperbildhaft) erfahren. Zweitens handelt es sich um ein ebenso ursprüngliches „Sich-Verlauten“ im Unbewussten, das man genau so wie ein inneres Sprechen, ein SPRICHT in sich aufgreifen, spüren und somit “entäußern“ kann. In einer klassischen Psychoanalyse kann dieses „Verlauten“ aus dem Unbewussten über die Träume und ihre Deutung, über die sogenannten „freien Assoziationen“ und deren Interpretationen oder über die Erfahrung und Deutung von Fehlleistungen und Versprechern bewusst gemacht werden.


Schautrieb (Wahrnehmungstrieb, Es Scheint) und Sprechtrieb (Entäußerungstrieb, Es Verlautet), STRAHLT und SPRICHT sind also ständig unbewusst in uns verknüpft. Je unbewusster und fehlerhafter diese Verknüpfung ist, desto mehr kommt es eben zu psychosomatischen oder auch rein seelischen oder sonstigen Beschwerden. Dabei spielt natürlich auch die Art, wie die Objekte der Außenwelt (dazu gehören auch menschliche „Objekte“) in diese Verknüpfung einbezogen sind, eine große Rolle. Um nicht zu sehr in der Theorie stecken zu bleiben, werde ich gleich vorschlagen zwei praxisbezogene Übungen machen. In diesen Übungen wird die Erfahrung des STRAHLT mit der des SPRICHT durch die Verwendung sogenannter FORMEL-WORTE verbunden, deren Wesen ich im weiteren erklären werde. Durch diese praktische Verbindung erreicht man eine Erneuerung der unbewussten und fehlerhaften Verknüpfung eben in Form dessen, was ich eine „analytische Psychokatharsis“ nenne.

Für dieses Verfahren benütze ich außer dem schon oben erwähnten psychischen Übertragungs-Vorgang (der Analytiker selber ist das ideale Übertragungsobjekt und der Vorgang selbst stellt ebenfalls diesen STRAHLT / SPRICHT – Komplex dar) noch ein anderes wichtiges Element der Psychoanalyse: das Wiederholungsgeschehen. In der Psychoanalyse gehen wir davon aus, dass im Unbewussten ein ständiger Zwang zu Wiederholungen besteht (die oben genannten Konflikte und Kombinationen der Triebkräfte werden ständig unbewusst wiederholt, auch darin spiegelt sich der STRAHLT / SPRICHT – Komplex wieder). Dagegen wird z. B. in anderen psychotherapeutischen Verfahren wie etwa dem autogenen Training oder der Meditation eine bewusste Wiederholung eingesetzt: die Wiederholung durch Üben, die Lern-Wiederholung.

Diese (die meditativen Methoden) haben für sich allein genommen den Vorteil, dass sie praxis-, also auch körpernäher sind (was wir ja eingangs gewünscht haben), dafür aber den Nachteil, dass sie viel zu sehr vom Bewussten oder besser: Gewussten, also schon vorgegebenen Sinn, Thema, Gedanken ausgehen. Sie haben eine schon zu sehr bestimmte Form. Sie sind zwar einfacher zu verstehen, sind bildhafter, plastischer, anschaulicher, virtueller (mehr auf das STRAHLT bezogen), und sie sind also auch praxisnäher, vernachlässigen aber das von der Psychoanalyse für so wesentlich und wichtig angesehene und mehr worthafte, symbolbezogene, rhetorische (das SPRICHT), aber eben doch noch weitgehend unbestimmt belassene Unbewusste. Diesen wichtigen Aspekt kann man gar nicht genug betonen. Dennoch – gerade wegen der Praxisnähe – werden wir uns auch auf diese meditativen Methoden stützen. Bevor wir jetzt zu den Übungen kommen noch eine kurze Zusammenfassung des bisher Gesagten.

Naturwissenschaften wie etwa die Neurowissenschaften, aber auch die Religionen und Philosophien genügen nicht mehr für das Verständnis von seelisch-körperlicher Krankheit und deren Behandlung. Was die wissenschaftliche Verständnisseite angeht, eignet sich hierfür ideal die Psychoanalyse. Was die mehr praktische, die Behandlungsseite angeht, empfehlen sich meditative Übungsverfahren. Auf den ersten Anhieb scheinen sich aber therapeutische Methoden wie die Psychoanalyse und die Meditation (z. B. autogenes Training) total zu widersprechen. Aber es genügt jedoch schon eine einfache Betrachtung, um zu sehen, dass beide doch das gleiche betreffen und sehr ähnlich sind: So hört der Analytiker mit - wie Freud es nannte - „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ seinem Patienten zu, während in der Meditation der Übende selbst mit ebenso schwebender Aufmerksamkeit in sich hineinhorchen muss. Genau so entsprechen die „freien Assoziationen“, die freien Einfälle in der Analyse, dem freien Auftauchen von Einfällen in der Meditation, insofern diese durch eine einfache Anleitung geführt werden. Lediglich in dem therapeutischen „Geführt-werden“ besteht ein Unterschied. Denn der Analytiker ist während der Anwendung des psychoanalytischen Verfahrens viel mehr persönlich gegenwärtig (als Übertragungs-Objekt und als Deuter), während in der Meditation die physische Person des Lehrers in den Hintergrund tritt. Hier findet die Übertragung sozusagen in den reinen virtuellen Raum hinein statt.



Sowohl die Psychoanalyse wie auch die meditativen Verfahren stützen sich auf zwei – im Grunde genommen gleiche - Grundkräfte, -triebe, -prinzipien, die ich also in der 3. Person Singular das „STRAHLT“ (Es Scheint) und das „SPRICHT“ (Es Verlautet) nenne. Ein Philosoph würde sagen (und auch ein Psychoanalytiker drückt sich so aus): man muss sich die Dinge, die Welt so denken. So, dass sie wie aus diesem Dualismus aufgebaut sich darstellt. Nun aber werden wir aus der Psychoanalyse und den meditativen Methoden ein eigenes, neues Verfahren erstellen, das all diese theoretischen Schwierigkeiten vereinfacht und das uns die Dinge nicht nur so denken, sondern sie auch direkter, physisch näher, praktischer erfahren lässt.

Nunmehr jedoch – um wie gesagt in der Theorie nicht zu weit auszuufern - empfehle ich jetzt eine Vorübung der beiden angekündigten Übungen zu machen. „Radit“ heißt lateinisch STRAHLT, „Dicit“ SPRICHT. Wenn wir beide zu „Radicit“ zusammenziehen, haben wir zwar noch kein ganz echtes FORMEL-WORT (dessen Charakter besteht in einer wissenschaftlich präziseren und klaren Zusammensetzung), aber eine für den ersten Übungsschritt brauchbare Formulierung. Wenn man sich nun (evtl. mit geschlossenen Augen) hinsetzt, langsam, monoton und nur in Gedanken das „Radicit“ wiederholt und gleichzeitig ein bisschen darauf achtet, ob man etwas, das den Charakter des STRAHLT hat, wahrnimmt, wird man eine Entspannung, vielleicht sogar schon eine leichte Katharsis bemerken. Das langsame, monotone Wiederholen des „Radicit“ fördert den Rückzug nach innen und damit das Auftauchen der STRAHLT - Erfahrung, die nichts mit den Augen zu tun hat, sondern eben etwas mit dem unbewussten Körper-Bild. Das wird später noch ausführlicher erklärt werden, für den Anfang mag eine kleine Erfahrung genügen. Nach einiger Zeit macht man dann die gleiche Übung mit dem SPRICHT. Während man im Hintergrund noch langsam (evtl. mit kleinen Unterbrechungen) das „R-a-d-i-c-i-t“ wiederholt und die beginnende Katharsis spürt, achtet man darauf, etwas von der Art eines Tones, Klanges, Verlautens zu vernehmen (die Umgebung muss natürlich anfänglich ruhig sein), das von tief innen her zu kommen scheint. Auch hier stellt sich eine entspannende Konzentration ein und manchmal fließen die Übungen ineinander über (es gibt dann so etwas wie ein „wirkliches Radicit“, ein STRAHLT, das SPRICHT oder umgekehrt). All dies soll jetzt nicht weiter verwundern, sondern nur eine Ersterfahrung darstellen, um das Ganze der Analytischen Psychokatharsis auch von der Praxisseite her besser zu verstehen.

Verwendet man also in der Meditation Formulierungen, die sich am Rande der Sprachlichkeit bewegen und wissenschaftlich genau dem psychoanalytischen (besser noch: dem psychoanalytisch - linguistischen) Konzept entsprechen (die bereits erwähnten FORMEL-WORTE), kann man auch diesen noch restlichen Unterschied zwischen Psychoanalyse und meditativen Methoden vernachlässigen und überwinden. Denn letztlich besteht die „Gegenwärtigkeit“ des Meditations-Lehrers genau so wie die des Analytikers in erster Linie in der Struktur von etwas stark Symbolischem, Worthaften, Bedeutungsbezogenem. Der Lehrer ist nicht die Figur, die nur fertiges Wissen im Kopf hat. Er ist vielmehr – wie die Psychoanalytiker sagen – das „Objekt der Übertragung“, d. h. unbewusste Bedeutungen (Virtuelles) werden vom Schüler, Patienten, auf ihn übertragen und können so von ihm zur Deutung (Rhetorisches) gebracht oder gelenkt werden. „Objekt der Übertragung“ und „Deutung“ dieser Übertragung sind konzentriertestes Symbolisches, Signifikantes, Essenz des Worthaften, des SPRICHT, aber auch des Bildhaften, Virtuellen, das STRAHLT schlechthin. Sie sind nicht einfach nur Gegebenheiten, Figuren, Formen, sondern sind mit Bedeutung aufgeladen, so wie etwa in der Antike das Delphische Orakel. Dort konnte man an eine Priesterin (Objekt der Übertragung) eine Frage stellen, die dann mit einem kryptischen Satz (Deutung) beantwortet wurde. Und so ist es auch mit dem Lehrer in der Meditation: er gibt ein kryptisches Wort, gegen das man an-meditieren muss, um es aufzubrechen und mit eigenem Beitrag zu lösen. Den gleichen Vorgang nennt man in der Psychoanalyse das „Durcharbeiten“, was natürlich modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt (während das Delphische Orakel und auch die meisten Meditationstechniken mythisch aufgebaut sind).



Die Verwendung dieses schlechthin Symbolischen, komplex Worthaften verbindet sich also mit dem anderen Teil des Unbewussten, dem mehr virtuell Bildhaften zu einer geradezu idealen Kompaktheit, Festigkeit, ja, fast müsste man sagen: es verknotet, verdichtet, verdeutlicht sich dazu. Deswegen könnte man es in Gegenüberstellung zum Übertragungs-Objekt der klassischen Psychoanalyse ein „Deutungs-Objekt“ nennen. Es nimmt Bedeutung an, Deutung, die Sinn vermitteln kann. Wenn die gerade erwähnte Vorübung etwas Wesentliches vermittelt hat, dann ist es nicht nur so etwas wie ein Entspannungsgefühl, sondern auch eine Art von Geometrie, noch besser Topologie, also eine elementare, direkt erfahrbare Struktur, die zu einem „Deutungs-Objekts“ werden kann. Auch das früheste Tasten und auch alle anderen frühesten Wahrnehmungen werden nach der gleichen Art, nämlich ur-strukturell, „topologisch“ im Psychischen organisiert, gespeichert oder verarbeitet. Deswegen meinte ich, ist es besser statt vom Schautrieb einfach direkt nur vom ES SCHAUT, ES STRAHLT zu sprechen, von etwas, das wie eine Wahrnehmungsstrebung, wie Wahrnehmungslinien in uns ein und von uns ausgeht. Bei der primärsten Art der Wahrnehmung ist das Geschaute und das SCHAUEN noch sehr ähnlich. Man kann dies z. B. ganz gut beim sogenannten „Blindsehen“ (Neglect-Syndrom) verstehen. Personen, deren Sehrinde im Gehirn zerstört ist, können trotzdem mit dem Rest des Gehirns noch „sehen“, obwohl das Bild auf der Netzhaut und im Gehirn nicht mehr verarbeitet werden kann. Sie „sehen“ rein gefühlsmäßig oder besser: sie „sehen“ mit dem, was im Gehirn den Dingen außen irgendwie identisch ist, sie „spiegeln“ einfach neurologisch, virtuell. Es findet ein STRAHLT statt, aus dem diese Patienten Informationen der Umgebung entnehmen. Für die Analytische Psychokatharsis genügt es, dass es einfach bei diesem STRAHLT bleibt und nichts sonst „visualisiert“ oder „gesehen“ werden muss. Es hat Objektcharakter und kann im Zusammenhang mit dem SPRICHT klare Bedeutung annehmen.

Dieses STRAHLT wird in der Meditation (oft im Mittelpunkt stehend) meist mit mystisch, mythischen Ausdrücken wie „Licht“ bezeichnet. Es hat aber absolut nichts mit Licht wie wir es wissenschaftlich verstehen zu tun und solche Ausdrücke sind daher nur verwirrend. Denn es geht ja wie gerade beim Neglect erwähnt nicht um ein wirkliches Sehen, sondern um ein „Sehen“ in Anführungszeichen, um ein unbewusstes Wahrnehmen, ein Erfühlen, geometrales, topologisches Erfassen. So ein Begriff wie der des (inneren) „Lichts“ sind vielleicht poetisch schön, verführen aber zum Beispiel zu visuellen Imaginationen, die nicht nötig sind und schaden. Ich werde dazu noch genauere Hinweise bringen.

Auch der andere Teil der „Deutungs-Objekts“, das Worthafte, der Sprechtrieb, Entäußerungstrieb, ist somit etwas anders zu verstehen, als nur ein Trieb, ein Drang zu Sprechen. Es ist vielmehr um eine allgemeine Strebung zur symbolischen Äußerung, Entäußerung gemeint, ein ES (etwas Objektartiges) , das SPRICHT. Einen derartigen Trieb, eine derartige Strebung, sich sprachlich zu entäußern, gibt es beim Tier nicht (auch für die Wahrnehmung, für das STRAHLT gilt dies, es besteht eine ganz andere Art der Visibilität beim Menschen als es die Wahrnehmung beim Tier ist). Das SPRICHT verdichtet, ja, vollendet aber die Deutung. Es gibt der bedeutenden Erscheinung des STRAHLT - vor allem im Zusammenhang mit den FORMEL-WORTEN - eine wirklich klare Deutung. Nochmals ein kleines Schema, das wieder diese grundlegende Struktur darstellt (Abb. 2).



SchemaAbb. 2 Schema der Psychoanalyse, der Meditation und der daraus entwickelten Aspekte des STRAHLT und SPRICHT als umfassendere Begriffe für die analytische Psychokatharsis.

Jede menschliche Tätigkeit ist irgendwie auch symbolische Äußerung, Verlautung eines komplexeren Zusammenhangs. Nicht umsonst sprechen wir vom Beruf als von etwas, in dem das Wort Ruf, Berufung steckt. Diese Strebung, eine irgendwie nach grammatischen Zeichen geordnete Artikulation zu tun, nenne ich also analog zum STRAHLT auch ein SPRICHT. Genau so finden wir es nämlich auch in der Meditation wieder, wenn etwa Formelworte (Mantren, suggestive Formeln, Gebete, Koans) innerlich, gedanklich, wiederholt vorgesagt werden sollen (diese sind allerdings nicht wissenschaftlich begründet). Dieses SPRICHT, also der zweite Grundtrieb, das zweite Grundprinzip, bildet zusammen mit dem ersten das menschliche Unbewusste (das sowohl Bild- und Worthafte), sowie es auch die Basis jeder Meditation ist. Übt man damit, dann kann man dieses Unbewusste öffnen eben hin zu einem „Deutungs-Objekt“.



Dann sieht es tatsächlich so aus wie der eingangs benannte „virtuelle Körper“ im Gehirn, nur dass dieser jetzt nicht krank ist sondern rein formal, rein strukturell (virtuell) gegeben ist und zudem noch (rhetorisch) formuliert ist. Wenn man nun noch die angekündigten FORMEL-WORTE so benutzt, dass sie letztlich auch eine „objektbezogene Deutung“, also eine Bewusstwerdung des zugrunde liegenden Problems herausgeben müssen, könnte man vom „virtuellen Körper“, der etwas aussagt, auch direkt als von einem virtuellen Psychotherapeuten, Lehrer, sprechen. So wird der Meditationslehrer in früheren zen-buddhistischen oder yogischen Methoden tatsächlich gesehen (man nennt dies dort die Astro-Mental-Ebene). All dies wird im Folgenden verständlicher werden, indem gezeigt wird, dass die FORMEL-WORTE selbst nach wissenschaftlichen Kriterien (psychoanalytisch, linguistisch, semiotisch etc.) verknotete Silben, Wortteile und Buchstaben sind und wie ein „inneres Sprechen“ funktionieren. Natürlich ist dann das Erscheinen des Lehrers in Form einer Art von Halluzination nicht nötig. Dies würden wir wissenschaftlich eher eine visualisierte Übertragung nennen, die aufgelöst werden muss (hinterfragt werden muss, wen und was sie wirklich bedeutet). Um nun wirklich zu erklären, wie es zu dem direkt erfahrbaren, handhabbaren „Deutungs-Objekt“ kommt, muss ich endlich das Wesen der FORMEL-WORTE darstellen.

Weitere Ausführungen und erneut ein praktischer Versuch


Nun sind wir also der Kombination von Psychoanalyse und Meditation und den angekündigten FORMEL-WORTEN schon näher gekommen. Das STRAHLT / SPRICHT stehen sich also als Grundstrebungen unserer selbst trennend / verbindend gegenüber, egal, ob wir Psychoanalyse üben oder Meditation. Denn wenn ich nun das Wesen des FORMEL-WORTES erklären werde, wird klar sein, dass es sich bei dem neuen Verfahren lediglich um eine Psychoanalyse „andersherum“ handelt und ebenso um eine neue, wissenschaftlich begründete Form der Meditation, die im Gegensatz zu herkömmlichen Methoden, das Denken nicht völlig ausschaltet, sondern ein „konjekturales Denken“ ist, ein Denken in – sehr präzisen – Vermutungen. Ich will damit klarmachen, dass es sich bei der Analytischen Psychokatharsis nicht um irgendwelche halbwissenschaftlichen Psychotherapien oder um Meditationsmethoden handelt.

Die FORMEL-WORTE entsprechen exakt dem Unbewussten, von dem Lacan sagt, dass es „strukturiert ist wie eine Sprache, wie die Sprache des Anderen“. Das Unbewusste ist letztlich durch diese Kombinatorik von STRAHLT/ SPRICHT, „topologisch“, ja, man könnte fast sagen hieroglyphisch (so wie Bild-Wort-Zeichen) verfasst. Wir wissen dies insbesondere von den Bild-Wort-Zeichen des Traums, den ja Freud als die via regia zum Unbewussten bezeichnet hat. Aber auch bei einfachen Versprechern kann man dies beobachten. So erzählte einmal Heinrich Heine die Geschichte eines Mannes, der mit seiner Bekanntschaft des reichen Baron Rothschilds prahlen wollte. Er wollte sagen, dass er mit ihm wie „familiär“ verbunden sei, sagte aber: „ich bin mit ihm so „famillionär“. Die Wahrheit, dass es doch die Millionen sind, die ihn faszinierten, rutschte so aus dem Unbewussten heraus. Wie im „famillionär“ eine Mehrfachbedeutung steckt, so auch in den FORMEL-WORTEN, die aus drei oder mehr bildhaften Bedeutungen (Vorstellungen) bestehen, jetzt aber umgekehrt wie der Versprecher im obigen Beispiel benutzt werden, nämlich konstruktiv. Indem das FORMEL-WORT nur eine Formulierung bildet, obwohl eine Mehrfachheit an Bedeutungen in dieser Formulierung, in diesem Wort-Zug des FORMEL-WORTES steckt, weckt es das Unbewusste. Das heißt, dieser eine Wort-Zug hat mehrere Schnittstellen, und liest oder spricht man ihn von jeweils einer anderen Schnittstelle aus, kommt immer eine andere Vorstellung heraus, genau so also, wie in dem oben genannten Beispiel: man kann familiär, Millionär oder eben „famillionär“ heraushören.


................................fa     mil      i            är................... Hier wird die Vielschichtigkeit dreier Bedeutungen entsprechend ih-
........................................mill     i   on     är................... rer klang-bildlichen Struktur unter einander geschrieben. Durch den
................................fa    mill     i   on     är................... Gleichklang mancher Stellen entstehen Verrutschungsmöglichkeiten.





In dieser Mehrfachheit von Bildern und Worten funktioniert also das Unbewusste. Es ist nichts anderes als eine Kombination des Bild- und Worthaften in eben dieser Form von Schnittstellen, wie wir sie auch aus der modernen Computertechnik kennen. Dort ermöglicht eine Schnittstelle den Austausch zwischen zwei oder mehr Systemen. Übt man durch gedankliches Wiederholen ein derartiges - jetzt jedoch wie gesagt ein konstruktiv, wissenschaftlich aufgebautes - FORMEL-WORT, so greift dieses nun genau in die bereits vorhandenen Schnittstellen des ja genauso verfassten Unbewussten (Bild / Wort, STRAHLT/ SPRICHT) ein, und kann dieses öffnen und modulieren.

Das Gleiche lässt sich auch durch ein reines Bild darstellen, indem die Schnittstellen durch Linien ausgedrückt sind und so die Vielschichtigkeit des Unbewussten wie in der obigen Abbildung malerisch sichtbar gemacht ist. Hier ( in der Abb. 4) ist jetzt also einmal das rein meditativ Bildhafte dargestellt. Der Titel „Hund/Mensch“ hilft weiter dazu, das Ganze auch wieder in Richtung des Worthaften zu schieben. Bild und Titel sind dann fast so etwas, was ich gerade vorhin ein „Deutungs-Objekt“ nannte. Es ist ein bildhaftes Objekt, dass durch seine „Strahlen-Linien“ schon etwas Bedeutung annimmt und durch den worthaften „sprechenden“ Titel dann endgültig Bedeutung, Deutung wird, die einen sehr konkreten Sinn annimmt.

HeydeckerAbb. 4 In diesem Bild von T. Heydecker findet sich durch Schatten- und Formkombination das Thema „Hund" variiert. Ja, eine eigenartige Ästhetik entfaltet sich in diesem Linien- und Farbenspiel, das sogar eine Andeutung an die sich aufrichtende Gestalt des Menschen beinhaltet.

Genau so muss man sich das frühe, eben noch mehr bild- als worthafte Unbewusste vorstellen. Es zeigt einem direkt die Fragwürdigkeit normaler, alltäglicher Sinneswahrnehmung und dass der Mensch daraus ein Bild von sich selber machen
muss. Dieser Vorgang der Menschwerdung kann auch in sehr bildhaften Gedanken vor sich gehen, und eben dies nenne ich das „konjekturale Denken".

In diesem Bild kommt natürlich der worthafte Anteil etwas zu kurz. Erst der Titel „Hund / Mensch" vollendet das Ganze in Richtung auf einen Schluss dieses Denkens.

 

 



Ein derartiges FORMEL-WORT, das nunmehr bild- und worthafte Elemente vereint (wenn auch hier anders als in der gerade gezeigten Abbildung wiederum die bildhaften etwas zu kurz kommen und die worthaften etwas mehr dominieren) und das aus der lateinischen Sprache stammt, die sich dafür besonders eignet, lautet beispielsweise:

.........................................................................................AL - IT - ER - AS - UM

Der bildhafte Charakter dieser Formulierung ist zwar wie gesagt nicht sehr ausgeprägt, kommt aber noch besser in der weiter unten gezeigten Kreisschreibung heraus. Immerhin sind die Buchstaben, die Silben in dieser etwas stilisierten Schreibweise ja durchaus etwas Bildhaftes und dass auch klare Worte darin stecken, wird der Lateinkenner sofort sehen. Um aber jetzt nicht wiederum in der Theorie zu weit zu gehen, werde ich den worthaften Aspekt dieser lateinischen Formulierung und deren wissenschaftlich präzisen Hintergrund gleich anschließend ausführlich erklären. Vorerst also jetzt wieder die erste (von insgesamt zwei) aus den bisher gewonnenen Erkenntnissen geformte praktische Übung, um auch sofort mit einer weiteren praktischen Erfahrung zu beginnen.

Es ist ja auch die Praxis, die im Vordergrund stehen soll, wenn es um die Behandlung seelischer Störungen geht, die sich körperlich ausdrücken. Eben gerade die Tatsache, dass sie sich körperlich ausdrücken, heißt ja, dass theoretische Überlegungen und auch die meisten Therapien der Seele nicht ausreichend geholfen haben. Die praktische, körperlich fast spürbare Seite muss mehr betont werden. Bei der ersten Übung nun wird - wie etwa beim autogenen Training und wie bereits in der Vorübung ausprobiert - in einer bequemen Sitzhaltung (und anfangs vielleicht besser bei geschlossenen Augen) darauf geachtet, ob man so etwas wie ein ES STRAHLT wahrnehmen kann. Die Formulierung, man solle ein „Licht“ wahrnehmen, wie es bei vielen Entspannungsverfahren empfohlen wird, ist wie schon erwähnt etwas unglücklich und widersprüchlich. Schließlich handelt es sich ja nicht wirklich um Licht. Der Begriff des STRAHLT, einer Form des unbewussten SCHAUENS, SCHEINENS ist hier tatsächlich besser, und wird von den meisten Menschen schnell realisiert.

Die franz. Psychoanalytikerin E. Dolto sprach in diesem Zusammenhang auch vom „Körperbild“, also von etwas, das sich vom Körper wie dessen eigenes Bild, wie dessen eigenes STRAHLEN abheben würde, man kann dies manchmal auch mehr empfinden, fühlend erfassen, als „sehen“. Es geht um das Bild, das man ständig vom eigenen Körper hat eben auf Grund all der Wahrnehmungen, die wie verknotet (topologisch) in uns organisiert sind. Egal, auf jeden Fall werden, während man auf dieses irgendwie geartete STRAHLT achtet, gleichzeitig langsam das oder die sogenannten FORMEL-WORTE gedanklich wiederholt. Es genügt, dass diesem ES STRAHLT irgendwie dieser Charakter des Bildhaften zukommt, auch wenn es schwarz hinter den geschlossenen Augen bleibt; es geht nicht darum, sich die Worte ES STRAHLT vorzusagen, und es hat auch nichts mit den Augen zu tun. Es geht nur um ein passives darauf Achten, ob irgend etwas, das diesem Charakter eines STRAHLT zukommt, wahrnehmbar ist, während man also nunmehr das oder die FORMEL-WORTE in Gedanken wiederholt, die den Charakter dieses idealen Meditations-Objektes (psychoanalytisch: Übertragungs-objektes) besitzen. In dieser Übungsphase geht es nur darum, etwas vom Charakter des STRAHLT wahrzunehmen und dabei die FORMEL-WORTE mental zu wiederholen.

 




Nochmals: nach einiger Zeit des Sitzens und entspannten Achtens stellt sich bei jedem Menschen das Phänomen von etwas her, das man das STRAHLT einer zunehmenden Entspannung nennen kann und das nunmehr noch weiter vertieft wird, wenn man gleichzeitig das FORMEL-WORT gedanklich übt. Das STRAHLT oder SCHEINT, dieses „glimmerige“ Etwas, ist – wie mehrfach betont -eine Art von primärster Wahrnehmung und immer bei jedem Menschen bereits unbewusst vorhanden. Um der praktischen Erfahrung wegen und um nicht anfänglich schon in lauter Theorie stecken zu bleiben, empfehle ich jetzt diese erste Übung einmal durchzuführen. Sie besteht also darin, etwas, das dem Charakter eines STRAHLT zukommt (ohne den Einsatz der Augen, ohne aktives Imaginieren) zu erfahren und gleichzeitig diese Formulierung des A.L.I.T.E.R.A.S.U.M langsam monoton gedanklich und stets erneut zu wiederholen.



Dieses STRAHLT ist die Erfassung eines prinzipiellen Triebes, einer Art von Primärwahrnehmung, und man muss dazu nichts anderes tun als etwas wach zu träumen, als nähme man etwas vom eigenen Körperbild wahr, den Schimmer eines beginnenden Traums – egal: eine derartige Erfahrung wird sich immer nach einiger Zeit einstellen, denn es handelt sich ja um das, was die Psychoanalytiker eben den Primärvorgang des Schautriebs nennen, also etwas, das eigentlich immer da ist und beim normalen Sehen nicht erfasst wird. Sitzt man aber entspannt da, wird man es irgendwie bemerken. Die Mystiker sprachen auch vom „schwarzen Licht“, weil sich selbst bei geschlossenen Augen etwas vom Dunkel hinter den Augen als schwarze „Farbe“ abhebt, von diesem STRAHLT erfassen lässt. Wie schon betont, kann das STRAHLT aber auch in Form des „rieselnden“ Körperbildes mehr als ein Spüren wahrgenommen werden. Und dies alles geschieht um so leichter und um so mehr, wenn man dabei langsam monoton AL-IT-ER-AS-UM gedanklich wiederholt, weil nunmehr beide Vorgänge sich gegenseitig aufschaukeln.

Bevor ich jetzt die zweite Übung erkläre, doch wieder kurz zurück zur Theorie und endlich zu einer genauen Erklärung über das Wesen des FORMEL-WORTES. Denn ohne dass der gesamte Vorgang auch klar verstanden worden ist, hat alles keinen Zweck. Der Intellekt soll das Verfahren genau so erfasst haben wie der praktische Moment erfahren werden muss. Denn nur dann kann der Intellekt während des Übens ruhig sein und muss sich nicht ängstlich nach den tatsächlichen Hintergründen fragen. Trotzdem – soviel nochmals vorweg – mit Mystik hat dies nichts zu tun, eben weil der Intellekt immer wieder eingeschaltet werden kann, wenn wirklich Fragen auftauchen. Wie die Praxis immer wieder geübt werden kann, so kann die Theorie immer wieder bedacht und hinterfragt werden. Ein derartiges Vorgehen verzögert nur scheinbar den Ablauf der Übungen. Das Denken (das dadurch „konjektural“ genannt werden kann) soll ja mitwachsen und sich vertiefen.




aliterasumWas hat es nun mit dem FORMEL -WORT ALITERASUM auf sich ? Die nebenstehende Abbildung zeigt es. Man weiß nicht, von welchem Buchstaben an man zu lesen beginnen soll, denn es kommt jedes Mal eine Bedeutung heraus, und zwar jedes Mal eine andere. Ich hätte also so das FORMEL - WORT auch S-U-M-A-L-I-T-E-R-A schreiben können oder I-T-E-R-A-S-U-M-A-L. Es ist egal, wo man (im Uhrzeigersinn) zu lesen anfängt, denn beim stetigen gedanklichen Wiederholen kommt man sowieso zu einer Formulierung, wo sich das Wesen des FORMEL-WORTES am besten durch die Kreisschreibung zeigt. Man muss ja am Ende wieder von vorne anfangen. Auch wenn es zum Teil unsinnige Bedeutungen sind, die sich darin enthalten finden, sind es doch echte Bedeutungen.


So steckt in der lateinischen Formulierung AL-IT-ER-AS-UM z. B.: Aliter asum, als Anderer bin ich nicht zugegen, aber auch: summa litera, der höchste Buchstabe, weiter: malit erasum, er will lieber das Ausgelöschte, era sum alit, ich bin diejenige, die ernährt, litera sum A, ich bin der Buchstabe A. Noch zahlreiche weitere Bedeutungen stecken darin, die alle letztlich unwichtig und auch oft etwas unsinnig sind. Man muss die Formulierung stets nur von einer anderen Stelle aus lesen. Doch es ist wie mit dem Versprecher oder dem Traum, der ja auch unsinnig ist und aus dem man in der Psychoanalyse dennoch einen wichtigen versteckten Sinn herausziehen kann. Wir üben ja nicht die einzelnen Vorstellungen, sondern nur die geschlossene, einheitliche Formulierung. Die Zerlegung an den Schnittstellen dient lediglich der wissenschaftlichen Begründung und dem intellektuellen Verständnis des Aufbaus der FORMEL-WORTE: dass sie nämlich genauso strukturiert sind wie das Unbewusste, dass alle Vorstellungen zusammen keinen durch irgendeine bewusste Konstruktion herzustellenden Sinn ergeben, so wie der Unsinn im Traum - (oder im Beispiel das „famillionär") sich ebenso aus verschiedenen unbewussten Vorstellungen zusammensetzt. Und doch zieht – wie gesagt - der Analytiker gerade aus dem Unsinn den (darin versteckten) eigentlichen Sinn. Wenn wir uns auf das intellektuelle Verständnis dieser FORMEL-WORTE, die am Rande der Sprachlichkeit stehen, stützen, so deswegen, weil wir heute in einer Zeit leben, wo wir mehr mit Intellekt und Wissenschaft vertraut sind, als mit dem Ur-Glauben früherer Zeiten. Damals gehorchten wir einem heute meist nicht mehr passenden z. B. von einem Gott gegebenen Sinn. Ich habe in einer umfangreichen Veröffentlichung darauf hingewiesen, dass die Religionsstifter sich wahrscheinlich sogar ähnlicher Meditationen wie der hier mittels der FORMEL-WORTE dargestellten bedient haben, sie haben sie nur nicht wissenschaftlich erklärt und verwendet und konnten sie daher nicht so ausdrücken. Aber auch die Psychoanalytiker haben die Struktur des Unbewussten noch nicht exakt so gesehen.

Nochmals also: beim FORMEL-WORT ist die bildhafte Struktur der Buchstabenreihe genau so wichtig, wie die worthafte Struktur, die durch die darin enthaltenen Bedeutungen gegeben ist. Wenn auch für das Unbewusste die bildhafte etwas zu kurz kommt – sie ist in dem oben gezeigten Bild-Beispiel „Hund / Mensch“ natürlich viel besser (bildhaft anschaulicher) zu sehen – so ist sie doch ausreichend. Denn das Bild allein ist wiederum in erheblichem Maße zu vieldeutig, es könnte lediglich durch einen treffenden Titel ergänzt werden. Aber ein Bild mit Titel könnten wir wiederum nicht in einem Übungsverfahren verwenden und deshalb ist das FORMEL-WORT in Kreisschreibung vielleicht die beste bild-worthafte Kombination.

Wir sitzen also in bequemer Haltung und wiederholen in Gedanken langsam dieses oder mehrere (von mir auch an anderer Stelle veröffentlicht) so geartete FORMEL-WORTE, während wir gleichzeitig darauf achten, ob wir irgend etwas bemerken können, ein Körperbild oder -gefühl, etwas Visibles, kurz: etwas, das einem STRAHLT zukommt. Evtl. muss man einige Zeit ohne Anspannung darauf warten, bis sich dieser „2. Blick“, der nichts mit den Augen zu tun hat, einstellt, und der immer vorhanden ist. Viele Menschen kennen diese Computerbilder, die man mit einem ähnlichen „2. Blick“, nämlich einem etwas wie in die Ferne gehenden „leeren“ Blick anstarren muss, und die uns enthüllen, dass wir tatsächlich noch einen unbewussten „Blick“ haben. Wie gesagt ist es eigentlich kein Blick, sondern ein „Raum-im-Raum-Gefühl“, ein SCHAUEN, ein STRAHLT oder das „Rieseln“ des Körperbildes. Diese erste Übung behalten wir etwa 10 min bei.




MoebiusAbb. 5 In dieser Abbildung ist ein (anderes) FORMEL-WORT auf ein Möbiusband geschrieben. Dieses Band stellt die Knoten-Topologie des Unbewussten ideal dar, indem es nur eine Fläche und nur einen Rand hat. Zudem ist auch noch gezeigt, wie entsprechend verschiedenen Schnittstellen (bei denen die Buchstaben auf die andere Seite zu wechseln scheinen, obwohl es nur eine Seite gibt) die Bedeutungen variieren können. (Hier ist allerdings ein anderes FORMEL-WORT verwendet).

Jetzt also die zweite Übung: bei dieser zweiten Übung, wird einfach auf das ES SPRICHT konzentriert, also nicht auf eine Stimme, was unsinnig wäre, sondern auf den Appell, Anruf, „Laut“, „Ton“, der sich unbewusst in uns artikuliert, entäußert, indem er sich an den Anderen als solchem richtet. Will man aber doch aus Anschaulichkeitsgründen bei dem Begriff „Stimme“ bleiben, könnte man auch sagen, dieses SPRICHT besteht - ähnlich dem FORMEL-WORT - aus drei oder mehr sich verknotenden „Stimmen“. Schon Sokrates stützte sich - wie Lacan treffend bemerkt - in seinem therapeutischen Verfahren, seinen Gesprächen, erstens auf die Stimme des Sklaven (im Menon zieht Sokrates aus dem Sprechen eines Sklaven das Wissen über die Quadratwurzel). Aber dann stützte sich Sokrates auch noch auf die Stimme seines „daimonions“, seine „innere“ Stimme und schließlich ja noch auf seine eigene, seine sich äußernde Philosophen-Stimme. Ebenso stützte sich Freud auf „die Stimme der Wissenschaft“, zweitens auf die seiner Patienten und drittens ebenfalls seine eigene vortragende und deutende Stimme. In dem von mir inaugurierten Verfahren stütze ich mich auf die Stimme der Topologie (auf die „Stimme des Objekts“, wie es Lacan vom psychischen Objekt sagt. An anderer Stelle sagt er auch, dass sich das Subjekt im „Gebot der Stimme“ vollendet, im Sprechtrieb. Ich benutze hier den Begriff des „Deutungs-Objekts“). Sodann stütze ich mich auf die Stimme der verschiedenen Bedeutungen im FORMEL-WORT und schließlich ebenfalls auf die, mit der ich mich hier in einer bisher noch nicht veröffentlichten Form äußere (dies war jetzt nur eine kurze theoretische Einlassung am Beispiel der „Stimme“).

Der Philosoph Heidegger sprach hier vom „Geläut der Stille“, was vielleicht noch besser ausdrückt, was mit dem SPRICHT gemeint ist, wenn es auch etwas vordergründig religiös klingt. In vielen Meditationen wird vom „Laut“ gesprochen, aber diese Begriffe sind leicht missverständlich, weil diese Übung nichts mit einem physischen Laut zu tun hat. Es handelt sich vielmehr um etwas, das Lacan auch das „universale Gemurmel“ in unserem Unbewussten nennt. Dieses besteht eben aus den Resten des Gehört- und Gesprochenen und den nicht zu Ende gebrachten Gedanken im Unbewussten. Wir jedoch konzentrieren uns nur auf den Appell dieses „Gemurmels“, auf diese linguistische, fast musikalische Resonanz unserer unbewussten Gedanken und erhalten so eine Konzentration auf das SPRICHT (das Verlautet) als solches. Dieses SPRICHT scheint von oben und rechts im Kopfzentrum zu kommen, denn es hat etwas mit unserem Sprachzentrum im linken Gehirn zu tun (deswegen erklingt es auch als Resonanz im rechten Teil. Es hat aber auch etwas mit einer topologischen Orientierung zu tun, die sich im Sprachgebrauch durch die Verwandtschaft von „recht“, „rechts“, „richtig“ ausdrückt).



Kurz noch einmal: wir konzentrieren uns in dieser zweiten Übung auf etwas in uns, das einem SPRICHT gleichkommt, das kein geheimnisvolles Raunen ist, sondern etwas, das uns kon-zentriert, d.h. zusammenzieht auf etwas Ureigenstes von uns selbst, das „Echo des Diskurses“ in uns selbst. Vielleicht sollte ich es am treffendsten ein ES VERLAUTET nennen, weil es so für die meisten Menschen am einfachsten zu verstehen und zu realisieren ist. In der Informatik spricht man hier vom „weißen Rauschen“, das aber - insofern es sich um den unbewussten Hintergrund handelt - für uns wichtiger ist als das bewusste Rauschen der Information! Es soll ja das Unbewusste klar werden und nicht das Gewusste. Man muss dabei nicht auf etwas achten, das von irgendwoher zu hören wäre, sondern dieses SPRICHT, VERLAUTET (nach Freud könnten wir auch sagen: der Primärvorgang des Sprechtriebes) ist immer durch eine Sammlung in Ruhe als solches wahrzunehmen und vermittelt sofort das Gefühl eines inneren Haltes, einer Orientierung, Lotung, vermittels der Resonanz des eigenen Sprech- und Hörsystems. Es ist, als könne man wie von der Ferne her etwas vernehmen, als käme das Echo der eigenen Gedanken in Form eines gebündelten Klang-Stroms zu einem zurück. Nochmals: Es geht nicht um ein „Stimmenhören“, sondern im Gegenteil um eine Konzentration, als könnte man gerade das sich hinter der extremen Ruhe, das sich von der absoluten Stille Abhebende vernehmen als den Sinn eines – wie Freud dies nannte – Urverdrängten. Es gibt einen „Ton“, auf den man sich konzentrieren kann. Auch diese Übung dauert etwa 10 min. Für beide Übungen zusammen genügen also etwa zwanzig Minuten, und ihr Ziel ist, dass sie sich kombinieren in einer eigenen Erfahrung des Unbewussten.

Nach einiger Zeit des Übens stellt sich tatsächlich etwas Derartiges ein, wie ich es im Umschlagsbild vermittelt habe: Eine Durchschlingung zweier Ur-Kräfte, -Triebe, -Bewegungen, die durch ihren worthaften, analytischen und den kathartischen Anteil eine immer mehr einheitliche Erfahrung und Aussage vermitteln. Das Erlebnis der Psychokatharsis (der Erhebung, des Rieselns, oder auch einer Art Freude, Erleichterung, Entspannung) zeigt meist einen Kulminationspunkt an, an dem man die Übungen wieder beenden kann – was vielleicht besser ist, als sich nur an strikte Zeitvorgaben zu halten. Trotzdem sollte mehr als eine halbe Stunde am Tag nicht nötig sein, um dieses Ergebnis zu haben.



Zusammenfassung und Ausblick


Ich fasse nochmals zusammen. Wir sind ausgegangen von dem von Freud so benannten Schautrieb (Wahrnehmungstrieb), den ich in seiner konkretesten, unmittelbarsten Repräsentanz ein STRAHLT nenne, weil dieses direkt so erfahren werden kann. Setzt man sich eine Zeit lang ruhig hin, kann man stets (anfänglich am besten mit geschlossenen Augen) ein entspanntes „Schillern“ des eigenen Köpergefühls, Körperbildes wahrnehmen, etwas, das eben den Charakter eines STRAHLT hat. Es hat nichts mit dem alltäglichen Sehen durch die Augen zu tun, und man kann es natürlich am besten dann wahrnehmen, wenn man gleichzeitig ein oder mehrere FORMEL-WORTE übt, weil dies die Entspannung noch mehr verstärkt, beides sich also aufschaukelt. Hat man dies zehn Minuten versucht, wechselt man zur zweiten Übung.

Diese beruht auf dem bei Lacan herausgearbeiteten Sprechtrieb (Invokationstrieb). Bei dieser Übung achtet man auf das SPRICHT, einen „Klangstrom“, Lacans „universales Gemurmel“ rechts oder in der Mitte des Kopfes. Es zieht einen förmlich nach innen und oben und konzentriert den Übenden wie ein Lot in sich selbst. Nach zehn Minuten dieser Übung kann man feststellen, dass alle Aspekte des Verfahrens zusammengehören. Während man die FORMEL-WORTE gedanklich wiederholt, kann man zwischen dem STRAHLT (SCHEINT) und SPRICHT (VERLAUTET) hin- und herschwenken, um sie mehr und mehr in eine feste Kombinatorik zu bringen. Dann fangen die Übungen an, ihr Ziel preiszugeben.

Worin wird nun dieses Ziel, diese Erfahrung bestehen? Kehren wir zu den beiden Grundtrieben zurück. Das STRAHLT wird also mehr einen räumlichen und objektartigen und das SPRICHT mehr einen zeitlichen und deutungsartigen Charakter haben. Zuerst nochmals zum STRAHLT. Es können Bilder, Erinnerungen unserer nicht verarbeiteten Vergangenheit auftauchen. Da wir alle diese Phänomene mit den FORMEL-WORTEN verbinden, werden sie eine gewisse Struktur, primitive Ordnung, Topologie bekommen, so dass wir sie aushalten und erfahren können ohne gleich in den Traum oder Schlaf zu versinken und ohne uns von ihnen ablenken oder verwirren zu lassen. Ich habe diese Erfahrung auch die „Aufmerksamkeit des Anderen“ genannt, denn wir befinden uns in einem Zustand der Aufmerksamkeit, die wie jenseits von uns herkommt (obwohl sie sich in unserem Kopf ereignet). Und unter „jenseits“ versteht der Psychoanalytiker nicht eine andere Welt, sondern eine Welt „andersherum“, eine von unserer so differenzierte Welt, wie es einst die Welt der Eltern für uns Kinder war. Und so wie eben einer der Eltern damals ein ganz Anderer (geschrieben mit großem A) war, so ist dies auch der Analytiker. Deswegen habe ich hier auch vom Übertragungs-Objekt gesprochen. Aber je objektartiger, je rein raumhafter dieser groß A wird, desto mehr ist er auch jene Andersheit in uns selbst, die unsere Symptome mitverursacht, aber uns auch als reine Katharsis eine befreiende Erfahrung vermitteln kann. Die STRAHLT-Übung hat also etwas mit der Grundstruktur des Raumes, der Räumlichkeit als solcher, dem Hyperraum (ineinandergeschachtelten Räumen) zu tun. Ich kann hier nur auf Freuds bild-räumliche Vorstellung des Unbewussten verweisen, wonach dieses so aufgebaut ist wie wenn die Stadt Rom aus antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Gebäuden – alle ineinandergeschachtelt – dargestellt würde. Und so auch unsere Erinnerungen, die mehr und mehr zu einem Gebilde, zu einer topologischen Figur zusammenwachsen (Aufmerksamkeit des Anderen, reine Struktur des groß A), wenn wir üben.

Ja, diese Erfahrung des Anderen (die auch Andersheit in und von uns selbst ist) führt uns zudem schon zu einer anfänglichen Form des SPRICHT, VERLAUTET, denn wir über ja dabei die FORMEL-WORTE, auch wenn diese noch nicht ein volles Sprechen im Sinne einer Deutung beinhalten. Aber erst wenn wir auch die zweite Übung machen, die mit dem ausschließlichen SPRICHT, beginnt eine andere Erfahrung, die ich den „Ruf, das Wort, den Auftrag des Anderen“ genannt habe. So lässt das SPRICHT, das Echo unserer „freien Assoziationen“ Gedanken auftauchen, die uns in wieder neue Gedankendiskurse führt: letztlich aber - denn alle Gedanken sind in Verbindung mit der ersten Übung (dem STRAHLT samt dem FORMEL-WORT) und bleiben so in Distanz zu dem simplen Alltagsdenken oder Grübeln. Sie lassen auf diese Weise ein zwar eingeengtes, aber klares und konstruktives Denken entstehen, das ich eben die analytische Seite der Psychokatharsis nenne. Es ist nunmehr nicht mehr ein Denken an dieses und jenes, sondern eines, das bezüglich seiner Alltäglichkeit fast ganz zum Stillstand kommt und gerade dadurch etwas ganz Wesentliches aus dem Unbewussten freigibt. Ein gewisses intellektuelles Nachfragen ist sicher lange Zeit notwendig, um die Methode nicht nur ganz verstanden zu haben, sondern auch durch die Praxis der Übungen und das Verstehen zusammen eine besondere Klarheit und Sicherheit zu erreichen. Dies ist eine Möglichkeit, immer bewusster unsere Tendenzen, Verwicklungen und Intentionen klarer zu formulieren. Und die letzte Klarheit bedeutet nichts anderes als „Aufmerksamkeit und Aufruf, Auftrag des Anderen“ in einheitlicher Form. Gleichzeitig mit der kathartischen Erfahrung findet so auch ein Stück Psychoanalyse statt.



Denn in dieser doppelten Natur des Übertragungs- und „Deutungs-Objekts“, der Aufmerksamkeit und des Wortes, Auftrags des Anderen finden wir exakt die Grundelemente sowohl der Psychoanalyse wie der Meditation wieder. Gedanken tauchen auf und binden uns in neue Gedanken ein. Aber entsprechend der Konzentration der Übungen werden sie immer wieder hindurchgezwungen durch die STRAHLT / SPRICHT – Beziehung einschließlich der psycholinguistischen Vorgaben der FORMEL-WORTE, so dass das Unbewusste mehr und mehr einen tieferen Sinn preisgibt, den man auch das „konjekturale Denken“ in seiner vollen Bedeutung heißen kann. . Körperlich spürbare Phänomene erscheinen nunmehr verstehbar und benennbar, als seien sie im Körperbild eingeschrieben, als erklärten sie ihre Anatomie, indem sie wie „rieselnd“ verspürt werden können.

Ich kann diese Erfahrung durch ein ganz humorvolles Beispiel erläutern: jemand, der diesem Verfahren der Analytischen Psychokatharsis sehr kritisch gegenüberstand, es aber dennoch schon einige Zeit übte, hatte plötzlich den wie von ferne her kommenden Gedanken oder die Eingebung oder vermeinte gar es fast gehört zu haben: „Nichts gesagt!“ Doch im selben Moment realisierte er natürlich, dass gerade sehr wohl etwas gesagt wurde, nämlich die zwei Worte „Nichts gesagt!“ Aber nicht nur dies überzeugte ihn, dass die analytisch psychokathartische Methode doch funktioniert, er verstand jetzt auch wie das Unbewusste konstruiert ist: nämlich oft durch Gegenbesetzungen, durch ein „Andersherum“ zum Bewussten. Denn bewusst war er ja der Meinung gewesen, dass dieses psychotherapeutische Verfahren eigentlich „nichts sagt“, es ist Humbug, Nonsens. Das Unbewusste aber schob ihm im selben Moment eine kleine Offenbarung, eine echte Deutung zu: nämlich dass er einen Widerstand hatte, dass das Unbewusste tatsächlich etwas „Wahres“ sagt, weil es wie ein Wort des Anderen ist, des Anderen in und außerhalb von uns (denn obwohl ihm schon klar war, dass es etwas von ihm, in seinem Inneren war, hatte er doch auch das Gefühl, als habe es ihm ein Lehrer, ein Deuter eingegeben.
So erfahren (gehört) ist es nämlich etwas ganz anderes, als wenn der Übende bei sich selbst nach einiger Zeit kritischen Zweifelns den bewussten Gedanken gehabt hätte: ach, vielleicht ist doch etwas an diesem Verfahren dran. Er wäre durch diese äußere Logik nur sehr schwach überzeugt gewesen. Aber als dies wie von tief heraus, wie fremd aus dem eigenen Inneren, ja genau wie die „Stimme des Objekts“ um das es hier geht, ihm zukommt, ist die Überzeugung eine andere. Plötzlich war aus dem „universalen Gemurmel“ heraus (den Lauten, Klängen, Raunen, etc.) exakt jene Andersheit, wie hörbar herausgetreten. A selbst (innen und außen) hat gesprochen. Das erzeugt Erkenntnis (Analytische) und Psychokatharsis (Befreiung, Reinigung). Dabei hat diese Erfahrung des „Nichts gesagt“ und der Erhellung der dahinter steckenden Bedeutung nichts mit Mystik zu tun. Es ist das Unbewusste, das SPRICHT (und auch in einem gewissen Maße STRAHLT, denn das „Nichts gesagt“ ist eine so kurze, fast bildhafte Formel, ein Blitz, der eben auch ein kathartisches Gefühl erzeugt hat).

Dieses Vorgehen entspricht also auch exakt dem der Meditation und der Psychoanalyse. Wie der Psychoanalytiker so ist das FORMEL-WORT samt dem es einrahmenden STRAHLT / SPRICHT ein ideales Übertragungsobjekt. Es hört zu und nach einer ausreichend langen Zeit gibt es auch eine Bedeutung, eine Antwort heraus. Diese Bedeutung ist in der gleichen Weise aufgebaut wie die Deutung des Analytikers, denn dieses Übertragungs-Objekt, diese Andersheit im Patienten, im Übenden selbst, antwortet nicht einfach auf seinen Anspruch, d. h. befriedigt ihn nicht in banaler Form, speist ihn nicht ab mit einem vordergründigen Trost. Es gibt hier keine direkte Antwort auf der Ebene des Bewussten oder besser: Gewussten oder vordergründiger Ansprüche, sondern vielmehr wirkt bei diesem Verfahren eine Entsprechung auf der Ebene der Kombination der Triebe (STRAHLT / SPRICHT) im Zusammenhang mit dem „linguistischen Kristall“ der FORMEL-WORTE eben im Sinne eines „Deutungs-Objekts“. Und das heißt: jetzt nicht mehr nur eine Entsprechung, sondern eine wirkliche Antwort aus dem Unbewussten. Das ständige Wiederholen der formelhaften Formulierung führt den Anspruch auf den Trieb zurück, und genau dies bewirkt auch die Deutung des Psychoanalytikers. Bei der mentalen Wiederholung der FORMEL-WORTE wird die Bewegung des STRAHLT mit dem Murmeln des SPRICHT so umeinander gewunden, bis eine Antwort gefunden ist.



Es ist exakt dies der Grund, warum man in der Psychoanalyse hier vom „Wiederholungszwang“ (besser: Wiederholungsgeschehen) spricht. Eben in diesen Wiederholungsvorgang wird direkt eingegriffen, indem man ihm selbst in Form wiederholter Übungen gegenüber tritt. Ja, Üben, Lernen, wiederholtes Durcharbeiten, war immer schon ein Gegen-Prinzip zu diesem unbewussten Repetitionsgeschehen. Indem ich in meinen Gedanken das FORMEL-WORT reverberiere, werden die Bewegungen des STRAHLT und das Gemurmel des SPRICHT es umwickeln, umkreisen, durchschlingen, bis eine Antwort gefunden ist. Bis eine neue Struktur, neue Inhalte des „konjekturalen Denkens“, ja, im extremen Fall z. B. etwas von der Art der FORMEL-WORTE sich gebildet haben wird oder das Verfahren weiter entwickelt werden kann. Denn es geht hier um Wissenschaft, an der jeder teilnehmen kann.

Es war auch Freuds Vision gewesen, eine Wissenschaft für jedermann aufzubauen. Dies drückt er vor allem in seinem Artikel über die „Laienanalyse“ aus. Man könnte z. B. bessere FORMEL-WORTE entwickeln oder überhaupt etwas anderes an ihre Stelle setzen, das eben noch besser die Kombinatorik des STRAHLT / SPRICHT klärt und festigt. Man könnte andere Faktoren herausarbeiten, die die Erfahrung des STRAHLT erleichtern, denn natürlich gelingt dies nicht immer so leicht, wenn man es – wie ich hier vorschlage – einfach aus dieser Broschüre heraus versuchen soll. Das gleiche gilt für das SPRICHT. Manche Personen verstehen auf Anhieb einen Satz, den sie „hören“ oder besser „konjektural denken“, während andere dessen Bedeutung nicht ganz verstehen, obwohl sie spüren, dass er ihnen etwas sagt und wichtig ist. Hier könnte man psychoanalytische Ansätze heranziehen wie sie reichlich insbesondere bei Lacan zu finden sind und sie für sich selbst und andere zur Strukturierung des Verfahrens verwenden.

Auch der Meditationslehrer ist ein Übertragungs- und „Deutungs-Objekt“ zugleich. Diese Vermischung ist problematisch und daher muss der Lehrer sie durch zwei Dinge ausgleichen, die heute nicht mehr wissenschaftlichen Ansprüchen genügen oder nicht mehr anzutreffen sind. Erstens muss er eine umfassende Lehre erarbeitet haben (das ist meist nicht so schwierig, denn diese Lehre orientiert sich an dem, was wir seit langem als allgemeine theistische Moral oder Gnosis kennen). Zudem muss er selbst noch eine besonders integre, moralische und überragende Persönlichkeit sein, und eben eine solche findet man heute kaum noch. Aber die Elemente des STRAHLT, SPRICHT und der FORMEL-WORTE wird der Meditationskenner vertraut finden. Hier kann er zudem auch intellektuell mitarbeiten und muss nicht blind einem Guru glauben.

Vereinfacht gesagt ist die Analytische Psychokatharsis nichts anderes als eine (angenehme, „geführte“) Umlenkung des Denkens in Bahnen, die einfach relevanter sind als die, die ich eben gerade als „alltäglich“ bezeichnet habe. Wir leiden an einem zu sehr veräußerlichten, banalen Leben. Viele unserer psychosomatischen Symptome könnte man gut auch so erklären, dass wir kein erfülltes Leben führen. Aber ist dann nicht eine Methode, die uns zwingt, dass wir uns mit uns selber beschäftigen, andererseits uns dabei jedoch auch ein sehr differenziertes, vielschichtiges, gedanklich auch manchmal anspruchsvolles Niveau zuweist, nicht ein ideales Verfahren? Ein Verfahren, um nicht nur die Symptome abzustellen und zu verstehen, sondern auch aus einer allgemeinen Banalität herauszukommen. Das Verfahren muss nicht nur praktisch geübt, sondern auch theoretisch verstanden werden und das heißt, dass man sich vielleicht auch generell über die damit im Zusammenhang stehenden Bereiche belesen muss oder soll. So kann psychoanalytische Literatur hilfreich sein, aber auch allgemeine Kenntnisse in den heutigen Wissenschaften.



Literatur

Empfehlungen für ein weiteres Literaturstudium:
Freud, S., Abriss der Psychoanalyse, Fischer Taschenbuch, 1996
Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse: Das Seminar v. Jacques Lacan, Buch XI (1964) , Walter,1980
Hummel, G. v., Analytische Psychokatharsis: Eine Verbindung von Meditation und Wissenschaft MCS, 2008